STANDARD: Die Zentralbanken haben im Kampf gegen die Inflation begonnen, die Zinsen anzuheben. Ist das die richtige Strategie?

Paul Jackson: Die Zinserhöhungen sind ein Teil des Prozesses. Ich glaube, die Inflation wird zu einem Teil von selber wieder sinken, weil sie von einer Rohstoff-Preisrally angetrieben wurde. Viele Rohstoffpreise sind zuletzt wieder gesunken. Damit wird es eine Entspannung geben. Wo die Zentralbanken eine Rolle spielen können, ist bei der Kerninflation. Wenn die Wirtschaft stark ist und der Arbeitsmarkt angespannt, steigt die Kerninflation. Die Zentralbanken können versuchen, diese durch die Straffung der Geldpolitik unter Kontrolle zu bringen. Die Notenbanken werden die Zügel jetzt so lange straff anziehen, bis die Volkswirtschaften an Tempo verlieren. Das beeinflusst die Löhne oder die Wohnkosten und wird jenen Teil der Inflation, die aus diesen Komponenten stammt, senken.

STANDARD: Die Notenbanken riskieren dabei aber eine Rezession. Selbst Fed-Chef Jerome Powell hat gesagt, dass der Kampf gegen die Inflation nicht ohne Schmerzen erfolgen kann.

Jackson: Das stimmt. Denn nur eine Rezession kann einen Teil der Inflation wieder nach unten bringen – wenn etwa die Arbeitslosigkeit steigt, senkt das die Inflation. Die importierte Inflation wird aber auch durch Währungsbewegungen beeinflusst. Der Dollar war heuer beispielsweise recht stark, weil die Fed teilweise aggressiver agiert hat als andere Zentralbanken. Das hat die importierte Inflation in den USA gedämpft, während sie in Europa gestiegen ist. Daher müssen europäische Zentralbanken nachziehen. Beginnt der Euro wieder zu steigen, wird das auch die importierte Inflation in der Eurozone senken.

Ökonom Paul Jackson findet: Die Geldpolitik war viel zu lange viel zu locker. Das räche sich jetzt.
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STANDARD: Ist es für Zentralbanken leichter, die heimische Inflation zu steuern oder die importierte Teuerung?

Jackson: Es ist für die Zentralbanken leichter, etwas gegen die lokale Inflation zu unternehmen, denn die importierte Teuerung können sie nicht steuern – außer über die Wechselkurse. Die ging zuletzt auch zurück, etwa aufgrund von Lieferkettenproblemen in China. Dagegen kann die EZB oder die Bank of England nichts tun. Geht es aber darum, dass eine Wirtschaft überhitzt, dann kann die Zentralbank eingreifen – das wirkt sich auf die lokale Inflation aus.

STANDARD: Letztes Jahr haben die Energiepreise zu steigen begonnen, weil nach der Corona-Erholung die Nachfrage wieder gestiegen ist. Jetzt haben wir aber einen Angebotsschock im Energiesektor. Wie können höhere Zinsen hier helfen?

Jackson: Ob die Nachfrage oder das Angebot die Energiekosten antreibt, ist ein wenig so, als würde man fragen, ob der obere oder der untere Teil der Schere dafür zuständig ist, dass das Papier geschnitten wird. Es ist die Kombination und die Interaktion von beiden, was die Preise jetzt hochtreibt. Was wir in der Pandemie gesehen haben, ist, dass die Nachfrage derart kollabiert ist, dass der Ölpreis kurzfristig sogar negativ war. Der Rebound im Konjunkturzyklus hat zusätzliche Nachfrage erzeugt, und da konnte das Angebot nicht mithalten. Dann kam die Situation mit Russland und der Ukraine hinzu. Das hat zu einer Reduzierung des Angebots geführt, weil Russland die Versorgung gekürzt hat und die europäischen Länder ihre Importe gedrosselt haben. Zentralbanken können im Allgemeinen nichts tun, um die Russland-Ukraine-Situation zu lösen. Was sie tun können – wenn sie gemeinsam handeln –, ist, die Nachfrage nach Energie zu reduzieren, indem sie eine Rezession provozieren. Steigen die Rohstoffpreise, gibt es zwei Effekte: Das Angebot steigt, weil es rentabler ist, Öl und Gas zu verkaufen. Aber die Nachfrage sinkt, weil es teurer wird. Beispielsweise fangen wir an, die Thermostate runterzudrehen – ich sage meiner Frau, sie solle einen Pullover anziehen, statt die Heizung hochzudrehen. Aber auch, weil höhere Energiepreise die Nachfrage in der Wirtschaft verringern – wir haben weniger Kaufkraft. Die Zentralbanken können den Rückgang der Energienachfrage durch hohe Zinsen verschärfen.

STANDARD: Mit dem Senken der Nachfrage nach fossiler Energie pushen wir aber auch den wichtigen Ausbau nachhaltiger Energieformen.

Jackson: Ich glaube, kurzfristig gibt es zwei Effekte: Wir werden weniger Energie konsumieren. Das wird uns dabei helfen, die Emissionen zu reduzieren. Doch die Energie, die wir konsumieren, wird vorübergehend schmutziger. Das liegt daran, dass wir etwa wieder Kohle einsetzen, die wir aus dem Energiemix schon gestrichen hatten. Aber sie ist jetzt nun mal verfügbar, Gas aus Russland dagegen nicht mehr in dem gleichen Ausmaß wie in der Vergangenheit. Die beiden Effekte gehen in eine unterschiedliche Richtung: Kurzfristig werden unsere Volkswirtschaften emissionsintensiver, aber die mittel- bis langfristige Auswirkung ist, dass Europa und hoffentlich auch der Rest der Welt schneller beim Ausbau der erneuerbaren Quellen werden. Damit werden die europäischen Länder auch energieunabhängiger. Die Erneuerbaren sind auch schon günstiger geworden als die fossilen Ressourcen. In Summe wird das den Netto-Null-Weg beschleunigen. Und wir können jede Hilfe brauchen, um dort hinzukommen.

STANDARD: Kommen wir noch einmal zurück zu den Zentralbanken: Welchen Anteil haben sie denn an der hohen Inflation? Sie haben die ultralockere Geldpolitik ja sehr lange gelebt.

Jackson: Ich mache vor allem die Zentralbanken für diese Inflation verantwortlich. Das US-Geldmengenwachstum betrug Anfang 2021 im Jahresvergleich 27 bis 28 Prozent. Tatsächlich gab es in so ziemlich allen Volkswirtschaften einen Anstieg des Geldmengenwachstums, wenn auch nicht im gleichen Maße wie in den USA. Glaubt man, dass die Inflation ein monetäres Phänomen ist, gibt es keinen Zweifel daran, dass die lockere Geldpolitik ein Inflationsimpuls war. Ich denke, dass die Zentralbanken viel zu lange viel zu locker gehandelt haben, selbst nachdem sich die Volkswirtschaften nach dem Corona-Schock recht gut erholt hatten. Jetzt geht das Geldmengenwachstum wieder zurück. In den USA wuchs die Geldmenge zuletzt nur noch um weniger als drei Prozent, das ist weitaus weniger als zum Höchststand der Pandemie-Ära. In ein oder zwei Jahren ist die Inflation damit viel niedriger, weil der monetäre Treibstoff, der die Inflation verursacht hat, jetzt abgeschaltet wird.

STANDARD: Warum haben die Notenbanken die Zügel nicht früher gestrafft?

Jackson: Ich denke, die Notenbanker fühlten sich gegenseitig darin bestärkt, die Zügel nicht anzuziehen. Aber seien wir ehrlich: Mit der Pandemie gab es eine Menge wirtschaftlicher Unsicherheit. Es war nicht klar, an welchem Punkt wir in der Lage sein würden, Volkswirtschaften wieder zu öffnen. Doch die Entwicklung lief besser als gedacht. Daher hätten die Zentralbanken bereits 2021 beginnen sollen, die Geldpolitik zu straffen und nicht bis heuer zu warten. Nachdem sie den Geist aus der Flasche gelassen haben, kämpfen sie jetzt darum, ihn wieder in die Flasche zu bekommen.

STANDARD: Die lockere Geldpolitik brachte auch viele Risiken, viele Märkte überhitzten. Das hätte doch gesehen werden müssen?

Jackson: Die Zentralbanken sind im ersten und zweiten Quartal 2020 zu einer sehr extremen Geldpolitik übergegangen. Schauen wir uns mal nur die Fed an: Kombiniert man den offiziellen Zinssatz mit der Bilanzausweitung, deutet das darauf hin, dass die Fed eine Zinspolitik von minus zehn Prozent verfolgte – unter Anwendung einer von Ben Bernanke eingeführten Regel. Und die Fed war nicht allein. Die EZB und die Bank of England taten dasselbe. Sie verfolgten alle eine extrem lockere Geldpolitik. Man kann eine solche Politik nicht zu lange laufen lassen. Die Finanzwelt hatte sich auch rasch beruhigt – sie befand sich im März 2020 ja kurz in Corona-Panik bezüglich der Aktien- und Kreditmärkte. Nach der Beruhigung sind die Märkte hoch geflogen. Ich hätte gedacht, dass die Zentralbanken entweder Ende 2020 oder Anfang 2021 anfangen, sich zurückzuziehen. Aber das taten sie nicht, und dies führte zu einer Reihe von Blasen. Wir haben Blasen in Kryptowährungen, in Aktien, auf dem Immobilienmarkt. Das erhöht das Risiko, wenn die Geldpolitik letztlich gestrafft wird.

STANDARD: Erzeugen wir aktuell nicht auch eine Megaschuldenblase, weil nicht nur zur Krisenbewältigung aufgrund von Corona Milliarden ausgegeben wurden? In Österreich wird Geld mit der Gießkanne verteilt, um die hohe Inflation für Privathaushalte abzufedern, es gibt Energiekostenzuschüsse für Unternehmen. In den USA wurde ein milliardenschweres Infrastrukturprogramm aufgelegt ... Irgendwann muss das alles auch zurückgezahlt werden.

Jackson: Die Märkte und Ökonomen haben das lange kritisch gesehen. Aber – um es salopp zu sagen – die Hühner sind noch nicht zu ihrem Schlafplatz nach Hause zurückgekehrt. Die Anleihenrenditen sind noch niedrig, weil die Zentralbanken seit der Finanzkrise Anleihen im großen Stil aufgekauft haben. Das hat die Renditen nach unten gedrückt. In der Finanzkrise haben die Regierungen getan, was sie tun mussten, um das Finanzsystem stabil zu halten. Während der Pandemie gab es viele Analysen in Richtung einer schweren Rezession. Hätten die Regierungen Haushalte und Unternehmen nicht unterstützt, wäre die Rezession damals noch viel schlimmer gekommen. Die Verschuldungsquoten sind jetzt sehr hoch. Wir verlassen uns in erster Linie immer auf das Wirtschaftswachstum, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren. Aber die Inflation hat auch eine positive Seite – sie hilft dabei, die Schuldenquote zu senken, weil die hohe Inflation auch ein hohes nominales BIP-Wachstum beschert. Die Frage, ob Schulden problematisch sind, ist weniger eine des Verhältnisses von Schulden zum BIP – es geht immer um die Finanzierungskosten. Bei sehr niedrigen Anleiherenditen war die Finanzierung kein Thema. Österreich hatte eine 100-jährige Anleihe begeben, als die Zinsen niedrig waren. Das hätten mehrere Staaten tun sollen, diese Chance haben sie verpasst. Jetzt, da die Anleiherenditen gestiegen sind, werden die Finanzierungskosten immer mehr zu einem Problem.

STANDARD: Wie lange wird die Inflation noch steigen oder so hoch bleiben?

Jackson: Einige Rohstoffpreise sind schon wieder deutlich gesunken, etwa der Preis für Kupfer oder Öl. Auch der Gaspreis ist zurückgekommen, und der Weizenpreis hat sich beruhigt. In den USA haben wir den Inflations-Peak schon gesehen. In Europa wird der Höhepunkt aufgrund der hohen Gaspreise erst später erreicht werden. Öl ist ein globaler Rohstoff, daher ist der hohe Ölpreis ein globales Problem. Die Erdgasmärkte hingegen sind stärker lokalisiert, und die Gaspreise sind in Europa viel stärker gestiegen als in den USA. Außerdem hat die Schwäche des Euro gegenüber dem Dollar die Inflationsproblematik in Europa im Vergleich zu den USA verschärft. Ich glaube aber, es ist nur noch eine Frage von ein paar Monaten, bis wir auch in Europa den Höhepunkt sehen. Wenn wir diesen erst einmal hinter uns haben, dürfte die Gesamtinflationsrate rasch zurückgehen. Der Rückgang der Kerninflation könnte dagegen länger auf sich warten lassen.

STANDARD: Im Supermarkt wird gerade alles massiv teurer. Werden die hohen Preise für Brot, Obst, Gemüse, Fleisch auch wieder sinken, wenn die Energiepreise zurückgehen und die Inflation sinkt?

Jackson: Lebensmittel reagieren vor allem auf landwirtschaftliche Zyklen – sie sind vom Wetter abhängig, und jetzt haben wir auch das geopolitische Thema der gestörten Lieferungen aus der Ukraine. Wenn sich der Preis für Weizen und die Energiekosten halbieren, wird das auf viele Lebensmittel durchschlagen. Die Lebensmittelhersteller werden einen Teil davon weitergeben. Ich glaube aber nicht, dass wir bei allen Lebensmitteln wieder Preise sehen, die wir gewohnt waren. Der Grund dafür ist, dass in der Zwischenzeit ja auch unsere Löhne und Gehälter gestiegen sind. Hinzu kommt, dass Vergünstigungen immer langsamer weitergegeben werden: Steigt der Ölpreis, ziehen die Preise an der Tankstelle sofort an. Sinkt der Ölpreis, dauert es aber länger, bis wir das an der Zapfsäule sehen.

STANDARD: Die geopolitischen Risiken sind enorm, das macht Vorhersagen schwer. Was lässt sich für die nächsten Monate abschätzen?

Jackson: Der Krieg in der Ukraine hat weniger Auswirkungen auf die Finanzmärkte als zu Beginn des Einmarschs. Wir sehen aber deutliche Auswirkungen bei den Energiepreisen. Wird der Atomknopf involviert, weiß niemand, was das bedeutet. Wie viele andere Menschen auch versuche ich, daran nicht zu denken. (Bettina Pfluger, 2.1.2023)